Freitag, 8. November 2013

Die 1:12-Initiative - eine Frage der Moral

Der Abstimmungskampf der 1:12-Initiative ist in der heissen Phase angelangt. Von Politikern und Unternehmern werden Argumente hin- und hergeworfen, Pro und Kontra werden gewertet, Steuerausfälle proklamiert, höhere Gewinne angeführt.
Eine Frage jedoch, die von Politikern und auch Unternehmern völlig ausser Acht gelassen wird, ist die Frage der Moral. Der ethischen Vertretbarkeit der Initiative - infolge einer Annahme oder Ablehnung.

Es ist dies nicht unbedingt ein ökonomisches Problem, vor dem wir uns befinden, es ist vielmehr eine sozial-gesellschaftliche Frage. Weltweit.
Die Frage, ob wir in der liberalen Schweiz einen "Lohndeckel" schaffen wollen, ist dabei irrelevant. Das internationale Marktwesen steuert die Entlöhnung der Mitarbeitenden, nicht der Staat. Eine einzelne Nation wird weder die Macht noch die Fähigkeit haben, den Markt zu beeinflussen, geschweige denn das Gehalt von einigen Top-Managern. Eine Annahme dürfte weder in der Schweiz noch weltweit für gerechtere Löhne sorgen - zu verknüpft ist infolge der Globalisation die kapitalistische Marktwirtschaft. Es grenzt an Utopie, anzunehmen, dass wir mit einem Ja zur 1:12-Initiative den schwächeren, nicht gut verdienenden Menschen helfen werden.
Ebenso unsinnig sind die Argumente gegen die Initiative. Steuerausfälle oder die Abwanderung von Unternehmen ins Ausland dürften kaum eintreten.
Dies hat einige Gründe. Erstens: Wenn ein Top-Manager nicht 20 Mio., sondern nur 2 Mio. pro Jahr verdient, stehen dem Unternehmen hernach (und logischerweise) 18 Mio. mehr zur Verfügung. Höchst wahrscheinlich dürften die Unternehmen also 18 Mio. mehr Gewinn ausweisen, welcher wiederum versteuert wird. Zweitens: Eine Abwanderung der Unternehmen aus der Schweiz ist primär für die betroffenen Grossfirmen, etwa aus der Pharma-Industrie, allein aufgrund des Umzugs der gesamten Infrastruktur, zum Beispiel von einer Fertigungsanlage für teure Medikamente, viel zu kostspielig, als dass dies Unternehmen tatsächlich in Betracht ziehen würden. Drittens: Die Problematik des Out-Sourcings - also die Ausgliederung von Billig-Jobs in das Ausland - sehe ich ebenfalls nicht als äusserst gravierend. Betroffen ist hiervon etwa Reinigungspersonal. Heutzutage ist aber das Facility Management zu 95% bereits ausgelagert. Andere Tieflohn-Berufe werden bei einer qualitätsbewussten Firma derweil sicherlich nicht nach Indien oder Bangladesch verlagert (hier meine ich etwa Call Center-Agents und dergleichen).

Ich gebe hier keine Empfehlung zur Abstimmung ab. Vielmehr stelle ich Fragen, die jeder für sich beantworten muss. Es sind dies keine ökonomischen Fragen, viel mehr betreffend sie die Sparten der Moral und Ethik:

1. Ist ein Mensch über 12x mehr wert als ein anderer?
2. Sollen Unternehmen der gesamten Gesellschaft dienen oder nur der Geldgier weniger?
3. Will ich die 1:12-Initiative annehmen, nur weil "sozial sein" gerade in Mode ist?
4. Will ich eine schwächere Ökonomie, ein regulierter Kapitalismus, und somit selbst auf etwas verzichten, zum Wohl schwächerer Gesellschaftsmitglieder?
5. Nehme ich in Kauf, dass durch die Annahme der 1:12-Iniative sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert, dafür die allgemeine Entlöhnung sozialer ist?

Es sind sicherlich keine einfachen Fragen. Es sind vielmehr Fragen, bei welchen wir uns bewusst machen müssen, an was uns gelegen ist.

Erläuterungen Frage 1: Ist ein Mensch über 12x mehr wert als ein anderer?
Intuitiv beantworten die meisten Menschen diese Fragen mit nein. Diese Antwort greift aber zu kurz. Folgendes Szenario:
Alexander Muster hat zuerst eine Ausbildung zum Kaufmann gemacht, Daneben absolvierte er die Berufsmaturität. Hernach begann er, an der Fachhochschule Betriebswirtschaft zu studieren. Nach dem Studium arbeitete er zuerst als Praktikant bei einem Detailhandelunternehmen im unteren Management, nebenher besuchte er zwei Abendschulen, um sein Wissen zu stärken. Später wechselte er zur Konkurrenz und arbeitete sich dort vom mittleren Kader bis an die Spitze. Er verdient nun rund 28'000 Franken / Monat.
Insgesamt investierte er für seine Ausbildung sowie den nachfolgenden Weiterbildungen aus seinem privaten Vermögen rund 90'000 Franken und viel Zeit. Er lebte dabei über Jahre hinweg in einer 1-Zimmer-Wohnung, verzichtete auf Auto, auf Fernseher, auf vieles.
Patrick Studer war schon seit je her faul. Seine erste Lehre als Kaufmann brach er nach 3 Tagen ab, weil er sich nicht mit seinem Chef verstand. Zwei Jahre später fing er eine Ausbildung zum Schreiner an, beendete diese aber nach einer Woche mit der Begründung, dass er die Kälte auf den Baustellen nicht vertrage. Ein zehntes Schuljahr, welches im vom RAV nahegelegt wurde, lehnte er ab - lieber spielte er zuhause auf der PlayStation. Den Fernseher hatte er vom Sozialdienst bekommen.
Mit 24 Jahren lebte Studer von eben diesem Sozialdienst. Nebst den wichtigsten Dingen - Wohnung, Versicherungen etc. - wurde ihm noch 1'800 Franken / Monat zum Lebensunterhalt vom Staat gezahlt.
Ein Jahr später erhielt er als Ungelernter eine Stelle als Lagerist bei derselben Firma wie Muster. Sein Lohn: 2'000 Franken / Monat.

Studer verdient hier also über 13x weniger als Muster. Aber ist dies nicht gerechtfertigt?
Muster hat über 8 Jahre in Aus- und Weiterbildungen investiert, verzichtete für ein höheres Gehalt auf vieles und gab der Gesellschaft einiges zurück - etwa durch Studiengelder, durch (mittlerweile) die hohen Steuerabgaben etc.. Studer hingegen profitierte 8 Jahre lang vom Staat - de facto von der Gesellschaft - ohne ihr etwas zurückzugeben. Trotz Hilfe von den sozialen Institutionen verweigerte er sich lange Zeit dem Arbeitsmarkt und kümmerte sich nicht um die Belangen Anderer.
Also, was jetzt?

Erläuterungen zu Frage 2: Sollen Unternehmen der gesamten Gesellschaft dienen oder nur der Geldgier weniger?
Hier ist klar, dass wohl die Meisten antworten werden, dass eine Unternehmung der Gesellschaft als solches dienen muss. Fakt ist aber, dass die Gesellschaft durch Arbeitskraft auch der Unternehmung dient. Dieses System ist ein Geben und Nehmen, und dem ist auch gut so.
Die Frage lautet also, ob sich einige Mitglieder einer Unternehmung auf Kosten Anderer bereichern dürfen. Sicherlich nicht. Allerdings liegt es der freien Marktwirtschaft zu Grunde, dass sie sich selbst reguliert - also auch die Löhne selbst definiert. Es ist nun mal unser gewähltes System. Alles andere grenzt an Kommunismus.
Die freie Marktwirtschaft fordert minimale oder gar keine Eingriffe durch den Staat oder staatliche Institutionen. Dieser Grundsatz wird durch die 1:12-Iniative gebrochen.
Natürlich ist eine staatliche Regulierung per se nichts schlechtes, allerdings müssen wir uns vor Augen führen, was durch die freie Marktwirtschaft möglich wurde:
Wir sind blind, wenn wir glauben, dass Entwicklungen wie das Smartphone, TV's, Computer (bzw. der gesamte Elektronikmarkt), das Auto etc. ohne Ausbeutung, ohne moderne Sklaverei, ohne Menschenrechtsverletzungen zu Stande kamen. Aufgrund der freien Marktwirtschaft ohne staatliche Regulierungen sind wir da, wo wir jetzt sind. Unser gesamter Reichtum basiert auf der Ausbeutung und der Unterdrückung anderer Menschen - nicht nur in Asien oder Afrika.
Natürlich ist es erstrebenswert, dies alles zu bekämpfen. Aber bekämpfen wir so nicht uns selbst?

Erläuterungen zu Frage 3: Will ich die 1:12-Initiative annehmen, nur weil "sozial sein" gerade in Mode ist?
Ja, es scheint momentan schon fast blasphemisch zu sein, wenn man nicht sozial ist. Sozial sein ist momentan im Trend. Einige sind Vegetarier wegen der schlimmen Tierhaltung, andere Spenden alljährlich hundert Franken an eine soziale Institution, die armen Waisenkinder in der Dritten Welt hilft. Wiederum andere gehen auf den Wochenmarkt und kaufen nur bei einem Bauern das Gemüse oder gehen zum Metzger, damit sie wissen, woher das geschlachtete Tier kommt.
Dies alles ist Scheinheiligkeit. Eine Art Selbstschutz vor dem Eingeständnis, dass wir viel mehr für die Ärmeren und Schwächeren dieser Welt tun könnten. Man ist Vegetarier wegen der schlechten Tierhaltung, geht aber trotzdem in den McDonald's einen Salat essen. Man spendet hundert Franken an World Vision, hat aber keine Ahnung, ob das Geld wirklich am richtigen Ort ankommt. Man kauft auf dem Markt beim Bauern ein, hat aber keine Ahnung, dass der Bauer sein Obst mit hochgiftigen Pestiziden besprüht. Man geht zum Metzger, weiss aber nicht exakt, woher der sein Fleisch hat.
Pseudo-Moralismus nenne ich dies.
Fakt ist, dass bei einer Annahme der Initiative der Pseudo-Moralismus wieder mal gesiegt hat. Denn für uns, mal ehrlich, ändert sich dabei nichts. Wir haben nur wieder einmal unser Gewissen beruhigt, nicht wahr?

Erläuterungen zu Frage 4 & 5: Will ich eine schwächere Ökonomie, ein regulierter Kapitalismus, und somit selbst auf etwas verzichten, zum Wohl schwächerer Gesellschaftsmitglieder? Nehme ich in Kauf, dass durch die Annahme der 1:12-Iniative sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert, dafür die allgemeine Entlöhnung sozialer ist?
Die Fragen 4 und 5 kann man getrost zusammenfassen. Es sind die beiden essenziellen Fragen, die beantwortet werden müssen - Fragen, die fern von jedwedem Pseudo-Moralismus liegen.
Will ich, und das ist der Kernpunkt der Initiative, auf etwas verzichten, um den Ärmeren und Schwächeren zu helfen? Es geht nicht darum, etwas Gutes zu tun, sondern etwas nicht mehr zu haben - zu Gunsten von anderen.
Eine kleine Metapher:
Du bist in einer armen Familie aufgewachsen, hast 2 Geschwister und lebst in einer ärmlichen Wohnung. Du kannst dir keine neuen Kleider leisten, das Geld reicht gerade mal, um täglich etwas zum Essen zu kaufen.
Nun fragt dich der Staat an, ob du gewillt bist, einiges von deinem Geld zu spenden - für Menschen, die sich gar kein Essen leisten können. Würdest du es tun?
Die Quintessenz daraus ist:
Deine Familie kann nun, wenn sie denn das Geld spendet, nicht mehr genug zu essen kaufen, um den Hunger täglich zu stillen. Die anderen Menschen können dies auch nicht, können sich aber immerhin etwas zu essen kaufen. Wärst du dazu bereit?
Und zum Abschluss noch ein zweiter Hinweis, diesmal zum Arbeitsmarkt:
Ist dir bewusst, dass du bei jeder Stelle, die du bekommt, jemanden anderem eine Arbeit wegnimmst, der diese vielleicht absolut nötig hätte, weil er kurz vor dem finanziellen Ruin steht?
Ist dir bewusst, dass du bereits jetzt Teil dieses Systems bist und es immer sein wirst?
Willst du wirklich was dagegen tun?

Dann tu' es!

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